2. Reportage „Wer sind unsere VIP?“


 – Sandra Kern

Mit­ten im Herzen der Stadt Zürich, genau genom­men an der berühmt berüchtigten Langstrasse, mit­ten im Rotlicht- und Dro­gen­m­i­lieu, wächst Frau A. geb. 1952, mit ihren drei Brüdern auf. Sie wird in sehr armen Ver­hält­nis­sen gross. Ihr Vater lei­det an ein­er Lun­genkrankheit (Lun­gen-Effizienz). Häu­fig hält er sich entwed­er in einem Sana­to­ri­um, im Spi­tal oder zuhause in seinem Zim­mer auf, in das er sich auf­grund seinen schw­eren Depres­sio­nen ein­schliesst, um von den vier leb­haften Kindern in Ruhe gelassen zu wer­den. Da Frau A.‘s Vater aus gesund­heitlichen Grün­den kein­er geregel­ten Arbeit nachge­ht, ist ihre Mut­ter die Hauptver­di­ener­in. Ihr Lohn fällt ger­ing aus. Eine sech­sköp­fige Fam­i­lie damit zu ernähren, ist deshalb ein äusserst schwieriges Unterfangen.

Auf­grund dieser famil­iären Sit­u­a­tion, bleibt Frau A. meist sich selb­st über­lassen und sucht täglich das dama­lige Restau­rant „Räu­ber­höh­le“ auf, in dem haupt­säch­lich Alko­ho­lik­er ein und aus gehen. Diese suchtkranken Män­ner gehen liebe- und rück­sichtsvoll mit dem 11-jähri­gen Mäd­chen um. Ver­sor­gen es mit Süss­getränken und Mahlzeit­en und schenken ihm Zeit, die bei den Män­nern — im Gegen­satz zum Geld — im Über­fluss vorhan­den ist. Frau A. fühlt sich wohl und gebor­gen in dieser Welt. Die „Räu­ber­höh­le“ wird ihre zweite Familie.

1970, sieben Jahre später mit 18 Jahren, lernt Frau A. ihren ersten Fre­und ken­nen und wird nach kurz­er Zeit — mit Zwill­in­gen — schwanger. Über Ver­hü­tung spricht in ihrer Fam­i­lie nie­mand, geschweige denn über Sex­u­al­ität. Frau A. hat keine eigene Woh­nung, keine Aus­bil­dung, keine Arbeit, kein Geld und wohnt mit ihrem Fre­und bei ihren Eltern. Auf­grund der une­he­lichen Schwanger­schaft, wird das Paar gedrängt zu heirat­en. Diesem Druck gibt Frau A. zwar nach, jedoch zeigt der frisch geback­ene Vater nach der Zwill­ings­ge­burt wed­er an seinen bei­den Töchtern noch an sein­er Ehe­frau Interesse.

Bis 1996 erre­ichte man die Volljährigkeit erst mit 20 Jahren, weshalb die bei­den Mäd­chen 1971 durch die dama­lige Vor­mund­schafts­be­hörde der Stadt Zürich bevor­mundet wer­den. Auf­grund Frau A.‘s sehr schwieri­gen famil­iären Umstän­den, sieht der Vor­mund vor die Zwill­inge zu platzieren. An Frau A.‘s kranken Vater überträgt die Behörde jedoch diese Vor­mund­schaft und die Neuge­bore­nen verbleiben in der Familie.

Im Alter von neun Monat­en, erkrankt eines der Zwill­ingsmäd­chen an Hirn­hau­t­entzün­dung und ver­stirbt kurz darauf. Nach einem weit­eren Ehe­jahr reicht Frau A. die Schei­dung ein.

Frau A. erre­icht ihr 22. Leben­s­jahr, zieht mit ihrer kleinen Tochter in eine eigene Woh­nung in der Stadt und arbeit­et in einem bekan­nten veg­e­tarischen Restau­rant. Zwar hat Frau A. nicht vor sich auf eine neue Beziehung einzu­lassen, jedoch ver­liebt sie sich trotz­dem in den Koch und die bei­den wer­den ein Paar. Da sich in „wilder Ehe“ zu leben nicht mit den Werten des Arbeit­ge­bers deckt, gibt das Paar dem Druck zu heirat­en nach und bekommt daraufhin zwei Kinder. Frau A.‘s zweit­er Ehe­mann redet sich den über­mäs­si­gen Alko­holkon­sum schön. Frau A. kann es ihm kaum recht machen, ihm kör­per­lich gefall­en oder seinen Bedürfnis­sen nachkom­men. Das Suchtver­hal­ten ihres Ehe­gat­ten ist Frau A. ver­traut und was sie ken­nt gibt ihr Sicher­heit. Um diese belas­tende Beziehung auszuhal­ten, fängt Frau A. eben­falls zu Trinken an sobald ihr Mann nach Hause kommt. Abends eine Flasche Rotwein pro Per­son wird zur Nor­mal­ität. Zu dieser Zeit sind ihre Kinder zwis­chen vier und 11 Jahren alt.

Nach 21 schwieri­gen Ehe­jahren reicht Frau A. die Schei­dung ein, bezieht alleine eine eigene Woh­nung und begin­nt auch tagsüber exzes­siv zu Trinken. In einem Grossverteil­er nimmt sie eine Arbeitsstelle als Kassiererin an, allerd­ings kommt es auf­grund ihrer Konzen­tra­tionss­chwierigkeit­en wieder­holt zu Kassen­dif­feren­zen. Frau A. wird sich Bewusst, wie sehr die Alko­holkrankheit ihrem Gehirn schadet und zieht ein Entzug in Betra­cht. „Du wirst es nicht schaf­fen, son­dern auf der Gasse lan­den!“, sind die Aus­sagen ihres Exmannes, die allerd­ings ihr Ans­porn sind den Alko­ho­lentzug zu wagen.

In den Sitzun­gen bei den anony­men Alko­ho­lik­ern (nach­fol­gend AA), lernt Frau A. einen Teil­nehmer ken­nen und wagt eine neue Beziehung. Im Jahr 2003 heirat­en die bei­den. Für Frau A. und ihren Ehe­mann stellt das Trock­en­bleiben eine grosse Her­aus­forderung dar, dieser das Paar nicht stand­hält. Bei­de wer­den rück­fäl­lig. 2006 kommt es erneut zu ein­er Schei­dung und Frau A. nimmt einen erneuten Anlauf für ein Entzug mit Hil­fe der AA.

Als trock­ene Alko­ho­lik­erin, grün­det Frau A. mit 60 Jahren eine eigene Fir­ma, die sie daraufhin 10 Jahre lang und bis zur Pen­sion­ierung erfol­gre­ich führt.

Bis heute ist Frau A. trock­en geblieben und rührt keinen Tropfen mehr an. Von der Män­ner­welt hat sie „die Schnau­ze voll“. In ihrer Woh­nung fühlt sie sich sehr wohl und ist gerne für sich alleine. Sie ist zufrieden mit ihrer Lebenssi­t­u­a­tion und dankbar, dass es ihr heute gut geht.

Frau A. sam­melt Schafe und das ist ihre neuste Errungenschaft: