Tamara hilft mit, (Redaktorin, Thurgauer-Nachrichten)


 – Sandra Kern

Tama­ra Schäp­per, Thur­gauer Nachricht­en, 04.09.2019

Anders ist die Gassenküche nicht wegen ihrer Gäste. Nein, die kom­men, geniessen ihr Essen, bezahlen und gehen wieder. Es ist das, was zwis­chen den Gästen und den Helfend­en passiert, das die Gassenküche zu einem ganz speziellen Ort macht. Die Her­zlichkeit und unendliche Dankbarkeit, die dem Team Mittwoch für Mittwoch ent­ge­genge­bracht wird.

Frauen­feld Und dann gehen sie alle wieder und man fragt sich, wie sie den Rest des Tages ver­brin­gen. Mit einem vollen Bauch und einem Lächeln ver­lassen sie die Gassenküche. «Tschüss Bruno», ruft San­dra Kern einem grossen, kräfti­gen Mann mit Bart hin­ter­her. Er dreht sich um und stre­icht sich über den Bauch. «Toll wie du abgenom­men hast», sagt eine der Köchin­nen. «Und wie geht’s dein­er Frau?», fragt eine andere. «Nicht gut», antwortet er. «Und im Moment weiss nie­mand wie man ihr helfen kann.» Bruno ist Stam­m­gast und kommt jeden Mittwoch. Auch Annemarie sitzt jeden Mittwoch am hin­ter­sten Tisch in der Stube ganz rechts, so hat sie eine gute Sicht über den ganzen Raum. Sie hat eine Por­tion ohne Gemüse bestellt. Die Dame am Tisch vor ihr wollte viel Gemüse und der Herr daneben hat Nach­schlag ver­langt. Das ist alles kein Prob­lem. Jed­er bekommt das Menü so, wie es gewün­scht wird. Und jed­er bekommt so viel, bis der Bauch voll ist.

Frei­willige kochen für Bedürftige San­dra Kern hat die Gassenküche vor neun Jahren gegrün­det. Ein Restau­rant für Men­schen, die am Exis­tenzmin­i­mum leben. Für Men­schen, die kaum mal in ein Restau­rant gehen kön­nten. Und für Men­schen, die nie­man­den haben, der ihnen beim Essen Gesellschaft leis­ten kön­nte. Unter­stützt wird San­dra dabei von Freiwilligen.

Hier sind alle Gäste VIP’s Mor­gens um neun Uhr trudeln die Helferin­nen nach und nach ein, die für diesen Mittwoch eingeteilt sind. Jede arbeit­et einen Mit­tag im Monat immer im gle­ichen Team. San­dra reicht mir eine Schürze, Jolan­da einen Schäler. Zweiein­halb Kilo Karot­ten gilt es zu schälen. Ich set­ze mich zu Els­beth an den Tisch. «Weisst du, früher habe ich bei der RestEss­Bar geholfen. Jet­zt bin ich schon lange Zeit hier», sagt sie. Wir sitzen da und reden. Sie erzählt mir von ihren Lei­den. Dass sie den Schäler nicht gut hal­ten kann, weil ihr die Hand wehtut. Später beim Deck­en der Tis­che erwäh­nt sie ihr schmerzen­des Knie. «Hi, ich bin Sue», sagt eine andere Helferin und streckt mir ihren Fin­ger hin. Ihre Hand ist einge­bun­den. «Wir sind alle etwas lädiert», ergänzt sie und lacht. Es scheint, als nutzen nicht nur die Gäste die Gassenküche als Ort des Austauschs.

Ich verteile die Tis­chläufer, das Besteck, Gläs­er, Servi­et­ten, Blu­men und Teekrüge. Schön sieht’s aus denke ich mir mit Blick auf die Tis­che. «Wir sind ein Restau­rant und all unsere Gäste sind unsere VIP’s», sagt San­dra, während sie mir eine Schachtel mit Salz- und Pfef­fer­streuer reicht. «Auf jeden Tisch je ein­er.» In der Küche wird der­weil das Fleisch mit der Sauce und die Suppe aufgekocht. Es gibt Pastetli mit Brätkügeli, Poulet­geschnet­zel­tem, dazu Rüe­bli und Erb­sli. Für die Suppe zur Vor­speise hat Jolan­da die ersten Kür­bisse in ihrem Garten gepflückt. Während ich die let­zten Pfef­fer­streuer auf den Tis­chen verteile, rüsten zwei Helferin­nen den Salat. «Auf jeden Tisch kommt eine Schüs­sel», sagt die eine. Es gibt frischen Kopf­salat, der gespon­sert wurde. Auch der Dessert und das Brot wird immer gespendet und das Fleisch vergün­stigt abgegeben. Bleibt etwas übrig, kommt es auf den Gaben­tisch. Direkt neben dem Ein­gang liegen bere­its die restlichen Salatköpfe, einige Pack­un­gen Löf­fel­biskuits, ein T‑Shirt, Schoko­riegel, ver­schiedene Brote, ein Puz­zle und CD’s. Wer etwas hat, das man sel­ber nicht mehr braucht, noch gut ess- oder brauch­bar ist, bringt es mit und die Gäste dür­fen sich bedienen.

Nor­maler­weise bezahlt jed­er Gast drei Franken für das Menü in der Gassenküche. Dank ein­er grosszügi­gen Spende muss heute aber nie­mand bezahlen.

Geteiltes Leid Man ken­nt sich. Alle grüssen sich mit dem Vor­na­men. Man ken­nt die Geschichte von einan­der. Die ersten Gäste kom­men schon um halb zehn einen Kaf­fee trinken und Zeitung lesen. Das Essen wird um halb zwölf serviert. Sup­pen­teller um Sup­pen­teller lan­det vor den Gästen und kurze Zeit später leer wieder in der Küche. Dann wer­den die Menüs verteilt. Das let­zte Pastetli hingestellt, sind die Ersten bere­its fer­tig oder möcht­en nochmals eine Por­tion. «Sehr fein war’s», meint eine Frau, als ich den Teller abräume. «Und genug war’s auch?», frage ich. «Hmmm, also ein biss­chen würd ich glaub noch nehmen», sagt sie und lacht mich an. Als sie auch den Nach­schlag gegessen hat, möchte sie mir etwas zeigen. Sie nimmt eine Fotomappe aus ihrer Tasche und legt Bilder von leeren Alko­holflaschen auf den Tisch. «Ist das nicht ver­rückt?», fragt sie. «Der trinkt den ganzen Tag.» Ein weit­eres Foto zeigt ihren Mann, wie er in ihrer Woh­nung auf dem Boden sitzt. «Ich weiss ein­fach nicht mehr weit­er», sagt sie. Was kann man ein­er Frau, die solche Prob­leme hat, rat­en? Ich bin froh, als sie mit ihrer Tis­chkol­le­gin ein Gespräch begin­nt und ich mit dem leeren Teller wieder in die Küche ver­schwinden kann. Mit solchen Schick­salen komme ich son­st nicht in Berührung. Nach dem Essen machen sich die ersten wieder auf. Andere bleiben noch sitzen und geniessen einen Kaf­fee. Dann ste­hen auch diese Leute nach und nach auf, bedanken sich und kehren zurück in ihren All­t­ag, bis sie in ein­er Woche wieder hier­herkom­men, um einige schöne Stun­den zu erleben.