Peter Fischer macht den Abwasch. (Bild: Reto Martin)
In Frauenfeld erhalten Menschen mit kleinem Einkommen einmal in der Woche eine warme Mahlzeit. Sandra Kern und ihr Team bieten ihren Gästen Restaurant-Atmosphäre. Viele finden hier eine Ersatzfamilie. Eine Reportage von Inge Staub (Text) und Reto Martin (Bilder). Thurgauer Zeitung
FRAUENFELD. Das Haus Nummer 12 an der Grabenstrasse in Frauenfeld ist unscheinbar. Passanten gehen vorbei, ohne es zu beachten. Nur wer stehen bleibt, entdeckt das kleine Schild: «Gassenküche Frauenfeld. Herzlich willkommen.»
Im Treppenhaus duftet es nach Fleischsauce und Blumenkohl. Die Gerüche kommen aus dem Saal im ersten Stock. Dieser Saal mit einer geräumigen Küche ist die Gassenküche. Jeden Mittwoch erhalten hier Menschen, die am Existenzminimum leben, eine warme Mahlzeit. Heute gibt es Griesssuppe, Salat, Teigwaren, Sauce Bolognese, Brokkoli und Blumenkohl. Bereits seit neun Uhr sind Sandra Kern (44) und ihr Team am Wirbeln. Mathias Suremann, Monika und Peter Fischer stehen am Herd. Sandra Kern und ihre Tochter Salomé dekorieren die Tische mit einem festlichen Tuch, Blumen und Schokoherzen. Auf jeden Tisch stellen sie eine Schüssel mit Salat.
Anstrengende Arbeit
Monika Fischer schüttet Teigwaren ins kochende Wasser. «Die Nudeln kochen wir erst kurz bevor die Leute kommen.» Die 70-Jährige gibt zu: «Die Arbeit in der Küche ist anstrengend. Wir kochen ja auch für über 40 Personen.» Sie wuchtet trotzdem die Töpfe hin und her, weil sie und ihr Mann nicht über die Not anderer reden, sondern helfen wollen.
Kurz nach elf kommen die ersten Gäste. Vier Frauen und ein Mann lassen sich an einem der Tische an der Fensterfront nieder. Die fünf sind der Stammtisch. Sie kommen jeden Mittwoch. «Wir kommen als erste und gehen als letzte», sagt eine der Frauen. Die 65-Jährige betont: «Wir können hier günstig und sehr gut essen.» Auch die Frührentnerin am Nebentisch lobt das sehr gute Menu. Sie schätze es sehr, dass es die Gassenküche gebe. «Ich bin psychisch krank und manchmal menschenscheu. Es tut mir gut, mich aufzuraffen und hierher zu gehen.» Der 50-Jährige, der aufgrund seiner Krankheit von einer IV-Rente lebt, nutzt das Angebot in der Grabengasse nur ab und zu. «Ich esse hier, wenn ich kein Geld mehr habe.»
Die meisten Gäste suchen die Gassenküche nicht nur deshalb auf, weil das Essen gut und günstig ist, sondern auch, weil sie hier gemeinsam mit anderen essen können und für zwei Stunden Gesellschaft haben. «Ich bin alleinstehend. Wenn ich hier esse, muss ich nicht kochen und auch nicht alleine am Tisch sitzen», sagt die 68jährige Heidi Müller aus Frauenfeld.
Bedient wie im Restaurant
An einem der hinteren Tische haben sich drei Generationen gefunden: Sandra Schütz, 22, und ihr Bruder Daniel, 24, haben heute die 57jährige Claire Ankele und den 78jährigen Heinz Etter als Tischnachbarn. Schon beim Salat ist die Unterhaltung an diesem Tisch rege. Claire Ankele erzählt von ihrem Enkel, den sie an zwei Tagen in der Woche hütet, damit ihre Tochter arbeiten gehen kann. Sandra Schütz sagt, sie sei froh, dass sie ihren Bruder gelegentlich als Babysitter einspannen könne. Das Gespräch wird von Sandra Kern unterbrochen: «Darf ich euch die Suppe bringen?» Wie in einem richtigen Restaurant servieren Sandra und Salomé Kern jedem einzelnen Gast die Suppe und den Hauptgang. «Wir sind die etwas andere Gassenküche. Wir wollen unseren Gästen das Gefühl geben, dass sie hier im Restaurant sind und nicht wie Hilfsbedürftige in einer Schlange vor einem Suppentopf stehen müssen», betont Sandra Kern. Die Alten wie die Jungen scheinen diesen Service zu schätzen. Heinz Etter strahlt, als ihm Salomé Kern einen Teller mit Pasta und Sauce Bolognese hinstellt. Er greift zur Parmesan-Dose und würzt das Gericht grosszügig mit dem Hartkäse. Als er die Dose weiterreichen will, winken seine Tischgenossen ab. «Das Beste lasst ihr stehen», wundert sich der Senior.
Um zwölf Uhr sind alle Tische besetzt. Jetzt herrscht Hochbetrieb. Monika Fischer giesst die frischen Teigwaren ab, ihr Mann füllt die Spülmaschine mit den ersten gebrauchten Tellern. Salomé Kern nimmt das Gemüse aus dem Ofen. Ihre Mutter hält Mathias Suremann leere Teller hin. Dieser schöpft Teigwaren und Sauce. Obwohl sich der 36-Jährige beruflich bereits sozial engagiert, will er das Engagement in der Gassenküche nicht missen: «Unsere Gäste sind sehr dankbar. Das gibt mir viel und entschädigt den grossen Aufwand.» Mathias Suremann ist, wie alle anderen Helfer auch, einmal im Monat im Einsatz. Vier Teams, die sich wöchentlich abwechseln, sorgen dafür, dass jeden Mittwoch dampfende Teller auf die Tische in der Grabenstrasse kommen.
Im Dauereinsatz steht Sandra Kern. Die 44-Jährige, die mit ihrer Familie in Mettendorf lebt, hat die Gassenküche ins Leben gerufen. Während ihres Studiums zur Sozialmanagerin fiel ihr während eines Praktikums bei der Stiftung Wetterbaum auf, dass es in Frauenfeld für Fürsorgeempfänger keine Möglichkeit gibt, günstig und gut zu essen. «Ich sah, dass Menschen, die am Existenzminimum leben, am Essen sparen.» Als sie ein Projekt umsetzen sollte, beschloss sie, eine Gassenküche zu eröffnen. Jeweils mittwochs mietet sie den Raum in der Grabenstrasse vom Verein zur Förderung der Jugendarbeit im Thurgau. Das Essen wird über Spenden und die Beiträge der Gäste finanziert. Diese bezahlen für das Vier-Gänge-Menu inklusive Kaffee drei Franken. Die Küchencrew arbeitet ehrenamtlich. Eine Bäckerei aus Matzingen liefert allwöchentlich süsses Gebäck fürs Dessert.
Auch an Weihnachten offen
Mittlerweile gibt es die Gassenküche schon im dritten Jahr. Obwohl Sandra Kern inzwischen hauptberuflich in einem 60 Prozent Pensum als Berufsbeistand für die Berufsbeistandschaft Region Frauenfeld Land arbeitet, führt sie ihr Studienprojekt weiter. «Ich bin dankbar, dass es mir gut geht und möchte davon etwas weitergeben», begründet sie ihr Engagement. Am zweiten Weihnachtsfeiertag kocht sogar die ganze Familie Kern für die Menschen, die in die Gassenküche kommen.
Sandra Kern ist freudig überrascht, dass ihre Gassenküche so ein grosser Erfolg ist. «Mein Anliegen ist es, dass hier jeder satt rausgeht.» – Dass dies der Fall ist, davon zeugen um 14 Uhr jede Menge leere Töpfe und Schüsseln. Und Heidi Müller gesteht, bevor sie vom Tisch aufsteht: «Ich habe wieder das ganze Menu gegessen.»