Thurgauer Zeitung: Mathias Frei 26.12.2018, 19:32 Uhr
Bilder: Reto Martin
Bewusst unweihnachtlich: So feiert die Gassenküche am 25. Dezember im ehemaligen Thurdruck-Gebäude. Für die 60 Gäste gibt es ein feines Vier-Gang-Menü – und ein paar Stunden Menschlichkeit.
Draussen ist es kalt, drinnen begrüsst Sandra Kern mit «Willkommen in der Stube». Es ist warm, warm von menschlicher Wärme. Der kurze Handschlag, die flüchtige Umarmung, das Lächeln des Gegenübers. Für einmal hat die Gassenküche an der Grabenstrasse nicht am Mittwochmittag offen, sondern schon am Dienstag, am Weihnachtstag. Dann, wenn die Einsamkeit bei vielen Gästen der Gassenküche ihren Höhepunkt erreicht, wenn am Fest der Liebe keiner da ist, wenn kein Kontakt mehr besteht zur Familie, wenn das Geld hinten und vorne nicht reicht, um jemandem ein Geschenk zu machen.
«Auf die Adventszeit spitzt es sich für viele meiner Gäste zu.»
Sandra Kern sagt das. Sie hat die Gassenküche im Herbst 2010 ins Leben gerufen und leitet sie seither. Hier arbeiten alle ehrenamtlich. Kern investiert nebst ihrem 60-Prozent-Pensum als Sozialarbeiterin einen Tag pro Woche in die Gassenküche. Es ist für sie eine Investition in Menschen.
Ehrenamtliche Arbeit von 8.30 bis 16 Uhr
Um 8.30 Uhr hat die Arbeit für Sandra Kern und ihre sechs Helferinnen und Helfer angefangen. Kurz nach 11 Uhr wird es eng.
«Heute kommen mehr als normal.»
Es muss also enger gestuhlt und für mehr Gäste gedeckt werden. Üblich sind 45 bis 55 Personen pro Mittwochmittag. An diesem 25. Dezember hat das Gassenküche-Team schliesslich 60 Gäste empfangen. «Wir sind wie ein Restaurant. Deshalb bedienen wir unsere Gäste», meint Kern, als um 14.45 Uhr nur noch wenige da sitzen. «Jetzt bin ich erschöpft, aber zufrieden», sagt die Gassenküche-Leiterin. Das sei für sie besser als Weihnachten. Zuhause feiert sie nicht mehr. Spätestens um 16 Uhr ist für Kern, ihre fünf Helfer in Küche und Service sowie Marcel, der jedes Mal mitarbeitet, Feierabend.
Bewusst unweihnachtlich: So werde der 25. Dezember in der Gassenküche gefeiert, sagt Sandra Kern. Tischläufer, schöne Servietten und Rosen hat es immer. Dass Weihnachten ist, merkt man nur an den zwei Geschenken, die heute jede und jeder nach Hause nehmen darf –
Spendern sei Dank. Zudem hat jemand den Unkostenbeitrag von drei Franken pro Person übernommen. Die Lebensmittel bekommt Kern wie schon das ganze Jahr von regionalen Anbietern zu sehr günstigen Preisen oder sogar gratis.
Grosse Portionen werden geschöpft.
So gibt es einmal mehr einen Viergänger, zuerst einen grünen Salat mit drei gefüllten Pastetli, danach ein Pot-au-feu mit ordentlich Einlage, zum Hauptgang ein Schinkli im Brotteig mit Senfsauce und knackigem Wurzelgemüse, bevor es zum Ausklang mit Kaffee und Kuchen geht. Zehn Liter Pot-au-feu und 13 Schinkli sind weggegangen. Zwischendurch hat ein Duo namens Ro-Bi & An-Gi die Anwesenden mit Dreh- und Handorgel-Musik unterhalten.
Sonst sitzt man im Winter in der kleinen Wohnung
Ein Stammgast erzählt, dass er sich jeweils schon am Sonntag freue, wenn die Gassenküche am Mittwoch wieder öffne. Im Winter sitze man sonst die ganze Zeit daheim in der kleinen Ein-Zimmer-Wohnung. Wie ihm geht es vielen Stammgästen. In der Gassenküche fragt sie niemand, warum es so ist, wie es ist. Sie können hier einfach sein. An der Decke hängen zwar Neonröhren. Aber sie spenden warmes Licht. Auf einem Sims steht eine gerahmte Illustration. «In Gedenken an unseren Heinz», steht darunter. «Tschau, Sändy», sagen die Gäste am Schluss zu Kern. Spätestens jetzt lächeln sie und zehren noch einige Zeit davon. Der Aschenbecher am Eingang zur ehemaligen Druckerei quillt über. Ein paar Zigis, ein feines Essen, ein paar schöne Stunden.